Der grauenhaft Anschlag in der Wiener Innerstadt am 2. November 2020 sollte uns veranlassen ernsthaft über die österreichische Integrationspolitik nachzudenken. Schnellschüsse und unqualifizierte Schuldzuweisungen, wie sie von der Regierung präsentiert wurden, können nicht zur Lösung des Problems führen. Dies wurde auch unter anderem von der im Anschluss an das Verbrechen eingesetzten Untersuchungskommission in ihrem Endbericht festgehalten. Notwendig ist aber auch, dass wir uns als Sozialdemokrat*innen einmal ernsthaft und umfassend mit der Integrationsfrage in Österreich im 21. Jahrhundert auseinandersetzen und dazu Antworten erarbeiten.
Sehen wir uns dazu einmal die gegenwärtige Situation näher an. Allgemein, auch weitverbreitet in unseren Reihen, wird Integration auf „die müssen sich anpassen“ und „die müssen unsere Werte übernehmen“ reduziert, was letztlich auf Assimilation hinausläuft. Dass dies nicht die Lösung sein kann, haben unsere assimilierten jüdischen Mitbürger*innen vor noch nicht allzu langer Zeit schmerzhaft erfahren müssen, so sie überhaupt überlebten! Daran sollten wir uns nicht nur einmal im Jahr am Holocaustgedenktag erinnern.
Unbestritten, unsere Gesetze müssen für alle gelten und da darf auch nicht herumrelativiert werden. Bei den Werten und Gebräuchen, oder auch einem uns bisher unbekannten Wissen, sollten wir zumindest nachdenken. Die kolonialistische Vorstellung, alles was wir denken, wir wissen und wir machen sei gut und habe für alle Zeiten zu gelten, sollte zumindest in sozialdemokratischen Kreisen nicht mehrheitsfähig sein.
Dass alles nicht immer so war lehrt uns ein Blick in unsere Geschichte. Ohne arabische Zahlen hätte wir zum Beispiel beträchtliche Schwierigkeiten beim Rechnen. Mit den römischen Zahlen, die ja auch nicht „unsere“ alpenländischen Zahlen sind, wären wir im wissenschaftliche Bereich nicht weit gekommen. Dass es sogar dabei zu Missverständnissen bei der Übernahme kam, beweist das vorher bei uns unbekannt Wort Ziffer für Zahlenzeichen. „Sifr“ ist das arabische Wort für Null bzw. Leere, das arabische Moslems im 9. Jahrhundert gemeinsam mit der Null nach Europa brachten. Die Übersetzung war also fehlerhaft.
Ähnlich verhält es sich mit der abendländischen Medizin. Usâma ibn Munqidh, einer der bedeutendsten syrischen Historiker des 12. Jahrhunderts, beschrieb in „Ein Leben im Kampf gegen Kreuzritterheere“ auch die fränkisch-christliche Heilkunde im Unterschied zu der in Syrien üblichen Kräuterheilkunde praktiziert von christlichen syrischen Heilkundigen (im 12. Jhd. wurden die Kreuzritter in der arabischen Welt als Franken verstanden). Ein kurzer Auszug:
Fränkischer Mediziner: „Diese Frau hier hat in ihrem Kopf einen Teufel, der sich in sie verliebt hat. Schert ihr die Haare.“ Man schor ihr die Haare, und sie aß wieder ihre normalen Speisen, Knoblauch und Senf. Als sich daraufhin ihre Auszehrung noch verschlimmerte, erkläret er: „Der Teufel ist in ihren Kopf eingedrungen“. Dann nahm er ein Rasiermesser, schnitt ihr ein Kreuz in den Kopf, zog die Haut in der Mitte ab, bis der Schädelknochen sichtbar wurde, und rieb die Stelle mit Salz ein. Die Frau starb sofort. Usâma sarkastisch dazu: „So bin ich nun wieder hier, nachdem ich von ihrer Heilkunde gelernt habe, was ich vorher nicht wusste.“
Abschließend noch zur Charakterisierung Usâmas seine Antwort auf die Frage über den größten Verlust in seinem Leben: Nach der Ausplünderung seiner Familie durch die Franken bedauerte er am meisten den Verlust seiner Bibliothek, die viertausend Bände umfasst hatte.
Zurück in die Gegenwart: ein wesentlicher Bestandteil für eine gelungene Integration ist die Kenntnis der Landessprache(n). Dem wird niemand widersprechen. Anders sieht es schon aus, wenn man sich ansieht, wie man das zu erreichen versucht. Extra Deutschklassen werden eingerichtet, wo natürlich ausschließlich Nichtdeutschsprechende separiert zusammengefasst werden. Jeder Laie kann sich vorstellen, dass unter diesen Bedingungen der Erfolg bescheiden bleiben muss. Man sollte sich eigentlich die Frage stellen, warum dies nicht geändert wird. Vom gegenwärtigen Unterrichtsminister kann man das allerding kaum erwarten, stellte er doch noch im Oktober 2018 auf die Frage, ob er eine gemeinsame Schule für sinnvoll halte, fest: “Ich bin kein Bildungswissenschaftler. Meine Expertise ist die Demografie, die Geografie, daher entziehe ich mich der Frage.“ (Falter Nr. 44/18 vom 31.10.2018). Unwissend und noch stolz darauf, wahrlich blamabel für einen Unterrichtsminister!
Nicht übersehen darf man allerdings dabei auch, welcher Langzeitschaden bei den indigenen, also den „eingeborenen“ österreichischen Schüler*innen unbewusst angerichtet wird. Es wird der Eindruck, sicher ungewollt, oder zumindest nicht ausgesprochen, vermittelt, die abgesonderte Kinder seien unvollkommener, minderwertiger etc., man selbst sei etwas Besseres. Fatalerweise hält sich diese Vorstellung bei vielen dann ein Leben lang, wie man unter anderem auch regelmäßig an den Wahlerfolgen bestimmter Parteien ablesen kann.
Der Zugang zu den verschiedenen Religionen wird auch oft thematisiert. Es wird dabei immer wieder stolz auf unsere „gemeinsame“ christlich-jüdische Wertegemeinschaft hingewiesen. Geflissentlich wird dabei übergangen, dass bis vor 75 Jahren noch eine industriell organisierte Ermordung jüdischer, sozialistischer, homosexueller, kommunistischer oder sonstiger „minderwertiger“ Menschen praktiziert wurde, an die sich allzu viele nachher nicht erinnern wollten.
Es sind aber auch immer wieder in Diskussionen angeführte religiös motivierte kriegerische Handlungen, um einen Unterschied zu Islam hervor zu streichen, sowohl dem mosaischen als auch dem christlichen Glauben nicht fremd. Die zum Beispiel in den beiden Religionen gemeinsamen Büchern Moses vorhandenen Befehle zum Völkermord (4. Mose 31, Vers 14-17) bzw. zur Völkervertreibung (4. Mose 33, Vers 50-56) werden heute oft mit dem Hinweis, dass es sich um bronzezeitliche Texte handle, die man anders zu verstehen habe, abgetan.
Außerdem hatten wir in Europa ja, zum Unterschied von anderen Religionen, die Aufklärung im 18. Jahrhundert, und seither seien wir diese „Altlasten“ los. Dabei wird davon ausgegangen, dass das ein einmaliges Ereignis war und Aufklärung nicht ein kontinuierlicher, nicht abgeschlossener Prozess sei. Ein Blick auf Voltaire, einen der Säulenheiligen der Aufklärung, sollte das verdeutlichen. Voltaire hatte in die Compagnie des Indes Orientales investiert, welche sich u.a. an kolonialen Eroberungskriegen beteiligte und zeitweise das Monopol für Sklavenhandel in Frankreich innehatte. Er scheint die Beschäftigung von Dienern schlimmer als den Sklavenhandel betrachtet zu haben, der ihm wohl als notwendiges Übel galt. Diese Position kann heute doch wohl nicht mehr eingenommen werden, wenngleich dieser Wandel an manchen internationalen Rohstoffhändler*innen wohl vorbeiging.
Integration ist also kein einmaliger, einseitig zu bewältigender Vorgang, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, an der wir noch viel zu arbeiten haben. Gemeinsam!
Kategorien:Integration
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