Roger Boris Andel – 18. Mai 1966 – 29. August 2019

Am 29. August 2019 ist die Reise Rogers zu einem Ende gekommen. Dieses Ende kam zwar nicht überraschend aber letztlich doch sehr plötzlich.

Roger wusste seit Weihnachten vergangenen Jahres sehr genau Bescheid um die Erbärmlichkeit seines Zustandes. Die Chancen waren sehr gering, aber er reagierte auf die für ihn typische Weise. Im Bewusstsein in einem der weltbesten Spitäler behandelt zu werden, nahm er den Kampf auf. Lassen wir ihn das selbst darstellen:

27. Dezember 2018:

ihr wirkt, das optimale umfeld hier wirkt. ich fühl mich super. heut wurde nochmal masz genommen, es wird schoen langsam ernst.

ich bin sehr zuversichtlich, dass alles gut geht, und auf weiterleben hab‘ ich mich selten mehr gefreut.

falls es sich nicht ausgeht, macht euch keine gedanken. ich will nicht tauschen, ich hab zuletzt viel erlebt, das mir ohne die krankheit vielleicht nie zugekommen wäre. sollte das 2. leben auch nur sehr kurz sein, es ist bereits jetzt etwas außergewöhnlich wertvolles, unbeschreiblich angenehmes, bereicherndes, ermächtigendes.

es sollt sich dennoch eine weile harmonischer einschwingen dürfen – also muss der krebs gehn.

ich danke euch allen!

„Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren“ war eine seiner im Kommunistischen Jugendverband erworbenen Erkenntnisse. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Bert Brecht oder Rosa Luxemburg zugeschrieben wird, oder vielleicht doch Antoine de Saint-Exupéry. Er akzeptierte sie für sein Leben.

Die anstehende Behandlung war nicht leicht zu ertragen, aber kopfgesteuert, wie er sehr oft agierte, akzeptierte er sie, nochmals in seinen eigenen Worten:

05.01.2019
Als Antwort auf die Einschätzung seines Onkels Dolfi:
liest sich tatsächlich nicht wie eine Wunschliste, und doch: guten Mut!!!

Roger:
sowieso. die wahrscheinlichkeiten sind allesamt so mimimal, dass jedwede beunruhigung im grunde irrational ist. und das erwischt mich natürlich (trotzdem, genau wie alle anderen). was in meinem fall die totale beruhigung ausmacht: es kommt nun doch zu einem ersten flächenbombardement, bevor nächste woche bei entsprechenden testergebnissen spezifisch nachgelegt wird. auch bestrahlung ist weiterhin nicht ausgeschlossen – zusätzlich und eher unüblich, aber meine fitness erlaubte es. das risk-reward management im haus ist einfach perfekt.
ausserdem hat heut dipl. pflegerin elfriede dienst. mir kann nichts passieren 😉

Moritz Baier:
Na wenn alles stirbt und man es überlebt ist man wieder gesund oder?

Wolfe Hesse:
das ist eine möglichkeit. den krebs über jahre gut unter kontrolle zu behalten ist ein anderer ansatz. es wird aufs beste ergebnis mit der grössten aussicht gezielt. das muss nicht die völlige beseitigung aller k-zellen sein. bei mir ist das für jetzt zum beispiel der fall: da ist vorgesehen, aufgrund des standes nach den naechsten 24 wochen nochmal komplett neu zu bewerten, und jetzt nur den bis dahin bestmöglichen wahrscheinlichsten stand anzubehandeln; da gibts dazwischen auch noch ein paar andere decision-points für taktische entscheidungen, imd ständiges monitoring. theoretisch könnte die behandlung jeden tag in die genau umgekehrte richtung wechseln. das ist im gegensatz zu unserer intuitiven wahrnehmung eben der optimale prozess, wie es im akh gemacht wird, und auf der welt die besten ergebnisse hervorbringt. #gewöhnungsbedürftig 🙂

Diese Behandlung setzte nicht nur seine Zustimmung voraus, man legte auch allergrößten Wert darauf, dass der Patient verstand, worauf er sich einließ. Das kommt auch in einer Bitte heraus, die er nach dem Behandlungsbeginn doch sehr drastisch formulierte.

09.01.2019:
ICH HABE bedauerlicherweise EINE GROSSE BITTE: ich moechte alle bitten, mir keine behandlungs-, pflegerischen oder aerztliche tips zu geben. ich brauche auch keine vergleichsgeschichten, wie bei anderen der krankheitsverlauf war, und irgendsonstige erwartungswerte – was immer das waere. das ist eine grundsaetzliche massnahme, die sehr viele risken abdeckt. wo ein paar nicht ganz so konzentrierte freunde mich schon knapp angehackt haben.

wenn ich eine frage habe, dann habe ich die 7 besten aerzte der welt als unterstuetzung. mit google kann ich selbst ausreichend gut umgehen.

einzig ueber sport und ernaehrung koennen wir schon reden, aber wie normale leute mit normalem stoffwechsel. der ist bei mir naemlich ok. im zweifelsfall bitte nichtmal fragen, ob es zu besprechen ginge, was du mir sagen willst. ich werde mit allen informationen versorgt, die benoetigt sind. ich hoffe, ich muss es nicht zu einer frage des respekts machen, dass das geht. es ist mit gutem verstand aufklaerbar, warum ich das so halte – soferne man ueber meinen informationsstand verfuegt: und ihr habt ihn einfach nicht. den vollstaendigen stand habe ich naemlich nicht mal selbst komplett: zu meinem schutz: und in der zone soll ich mich gut gelaunt aufhalten – mehr kann ich diesbezueglich zur heilung nicht beitragen. …(ich weiss, dass das damit abgehakt ist.)

Ich bin deshalb so ausführlich auf die letzte Zeit eingegangen und habe Rogers eigene Worte hier verwendet, weil sie so viel über seinen Charakter, seine Herangehensweise und sein Verhalten, seine Reaktionen aussagen.

Roger agierte nicht nur kopfgesteuert, er war auch außerordentlich geprägt von seiner Tätigkeit. Der lebenslange Umgang mit einem Computer prägt den Menschen. Vor allem jene, die den täglichen Bewerb um die größere Präzision mit der Maschine aufnehmen. Es ist eine faszinierende, aber gefühlsarme Welt.

Es muss uns aber klar sein, dass der Umgang mit Maschinen seit der industriellen Revolution vor bald 200 Jahren uns alle in einem beträchtlichen Ausmaß ähnlich formte. Eine der meistgeachteten und verlangten Tugenden z.B. ist die Pünktlichkeit. Klar, ein optimales Zusammenarbeiten erfordert dies. Und doch kommen dann des Öfteren elementare menschliche Bedürfnisse zu kurz. Für Menschen aus anderen Kulturkreisen, auf die wir manchmal in unserem Hochmut geringschätzig hinabblicken, haben Familie, Freunde, Hilfsbereitschaft, mit einem Wort, alles was Menschlichkeit auszeichnet, noch einen ganz anderen Stellenwert.

Roger war nicht übertrieben geduldig, ich denke ich weiß von wem er das geerbt hat. Das führte des Öfteren zu Konflikten, die sehr oft sehr schmerzlich waren. Für beide, und die öfters ein weiters Zusammenarbeiten, oder in Extremfällen, ein weiters Zusammenleben, unmöglich machten. Er machte es anderen nicht immer leicht, er schonte aber auch sich selbst nicht. Sich das Leben leicht zu machen, war nicht seine Sache. Als projektorientiert Arbeitender wusste er von der Notwendigkeit, manchmal auch sehr fortgeschrittene Werke doch noch in letzter Minute abzubrechen. In seiner Jugend wurde ihm das gerade in Österreich in Zwentendorf sehr eindringlich demonstriert.

Roger war ein zutiefst politischer Mensch. Das zeigte sich besonders in seiner Einstellung zum Zweck des Einsatzes der modernen Informationstechnologie. Der vorherrschende Einsatz zur Produktivitätssteigerung, und letztlich zu einer Gewinnmaximierung, entsprach nicht seinen Vorstellungen. Die Möglichkeit, im Arbeitsleben schwere körperliche oder monotone, geistestötende Tätigkeiten von neuen, intelligenteren Maschinen erledigen zu lassen und den Menschen zu entlasten kam ihm zu kurz. Es ging und geht immer noch um die Befreiung des Menschen. Dass Roger mit dieser Ansicht nicht ganz so allein war, bestätigt sich erst vor wenigen Tagen: „Durch Künstliche Intelligenz werden in Zukunft Menschen mehr Zeit haben, zu genießen, dass sie Menschen sind.“ Diese Vorstellung äußerte kürzlich Alibaba-Gründer Jack Ma, Chinas reichster Multimilliardär, der sich übrigens auch eine 12-Stunden-Woche vorstellen kann. „Computer haben nur Chips, Menschen haben ein Herz. Und vom Herzen kommt die Weisheit.“ Jack Ma glaubt nicht, dass Künstliche Intelligenz Menschen ganz ersetzen kann.

In diesem Spannungsfeld bewegte sich Roger. Er war vor bald 20 Jahren auch an einem gerade heute in den Vorwahlzeiten im Einsatz befindlichen Informationssystems beteiligt: wahlkabine.at, Österreichs erfolgreichste Politik-Orientierungshilfe im Internet. Den Menschen abseits von den mannigfachen Manipulationsversuchen ein Instrument für eine wohlüberlegte politische Entscheidung zur Verfügung stellen, entsprach seinen Vorstellungen von einem den Menschen dienenden Einsatz der Informationstechnologie.

Roger ist gegangen, natürlich schmerzt der Verlust. Ich denke aber, dass wir uns an all das was er uns auch gegeben hat, erinnern sollen. Seine Vorstellung von Konsequenz war öfters schmerzlich zu ertragen. Und doch, hat er uns durch sein Beispiel daran erinnert, dass Kompromisse nicht immer die beste Lösung sind, und uns in eigenen, nicht ganz systemkonformen Entscheidungen bestärkt, standhaft den Verlockungen des Systems zu widerstehen, und zu dem was wir für richtig erkannt haben, zu stehen.

In den letzten Jahren hatte er immer öfter auch für jüngere Menschen Informationen und Ratschläge bereit, nicht nur im Informationstechnologiebereich. Er ist geselliger geworden und seine Umgebung schätzte das sehr. Ein letztes Beispiel aus dem AKH:

09.08.2019

traeger fahren dich hin im Bett und her im krankenhaus. mit manchen kommts zum Gespräch, mit andren nicht. der jetzt, der sieht zum Schluss die Bücher hier bei mir, und fragt was ich so les‘. ich geb ihm ein knappes Bild der klimasituation, und stell ihm die unlösbarkeitsvermutung dar.

5 min spaeter: er kommt nochmal ins Zimmer um sich den Buchtitel aufzuschreiben. ich schenkte ihm das Greta buechlein. sein Sohn ist 6 Monate alt.

Roger wird seinen letzten Platz an der Seite seines vor 80 Jahren in der Ennsgasse 18, wenige Häuser von Rogers letzten Wohnort entfernt, aus dem Leben geschiedenen Großonkels Franz finden. Mein Onkel war jahrelang im austrofaschistischen Anhaltelager, einem Konzentrationslager, im niederösterreichischen Wöllersdorf, eingesperrt – ein Schicksal, dass er mit vielen österreichischen Sozialisten teilte. 1938 war die Entlassung für den schwer an Lungen-TBC Erkrankten keine Befreiung mehr, im nunmehr  nationalsozialistisch besetzen Österreich sah er für seine jüdische Freundin und sich keine Zukunft. Daran ist er letztlich zerbrochen.

So es ein Danach gibt, denke ich, werden die beiden gut miteinander auskommen.

Die Erde sei dir leicht.

Wilhelm L Anděl
wilhelm@andel.at
Wien, 2019-09-16

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