Realitätssinn & Klartext

Mit dem Einzug Christian Kerns ins Bundeskanzleramt hat sich in Österreichs Innenpolitik einiges geändert: ungewohnter Weise spricht ein Spitzenpolitiker über offensichtliche Probleme und Konflikte ohne diplomatische Schnörkel. Große Verwirrung, nicht nur bei politischen Freunden und Gegnern, sondern auch Österreichs Top-Journalisten, stellte sich sofort ein.

Kern, die Türkei & der EU-Beitritt

Statt Scheinbeitrittsverhandlungen weiterzuführen, will der Kanzler bald über andere Formen der Zusammenarbeit reden. Man müsse einen „Weg der Kooperation in der Wirtschafts-, Sicherheits- und Migrationspolitik festlegen“, der von „Realitätssinn“ getragen sei, so Kern. Gerade in der Wirtschaftspolitik, ergänzte Kanzlersprecher Schwarz, würde sich eine solche Vereinbarung nicht stark von den entsprechenden Kapiteln bei den Beitrittsverhandlungen unterscheiden: „Die Türkei wird ein wichtiger Partner bleiben.“

Was machten Österreichs Journalisten daraus: „Kern will Abbruch der Beitrittsverhandlungen.“ Kerns Überlegungen für neue Wege mit der Türkei wird auf eine 5-Worte-Phrase reduziert. Es überrascht nicht, dass von der EU-Spitze ähnliches zu vernehmen war. Schließlich ist der Kommissionspräsident bisher mehr als erfolgreicher luxemburgischer Steuerjongleur in die Geschichte eingegangen. Politik für die Menschen in Europa und der Türkei sollte aber realistischer sein.

Kern & die Wertschöpfungsabgabe

Unbestritten unter den führenden Nationalökonomen ist, dass weltweit Änderungen der Besteuerungssysteme nötig sind. Der Kanzler befindet sich also in guter Gesellschaft. Finanzminister Schelling reagierte prompt: Kern sei ein „linker Ideologieträger“.

Da ist Schelling schon mehr ein Mann der Praxis. Bekannt wurde er wegen eines Steuersparmodelles von XXXLutz über eine Firmenkonstruktion mit einer Tochterfirma in Malta. Diese stellte Lizenzzahlungen in Rechnung, Gewinne wurden dadurch von Ländern mit höheren Steuersätzen nach Malta verschoben, wo Gewinne theoretisch mit 35 Prozent Körperschaftsteuer besteuert wären, aufgrund von Rückerstattungen tatsächlich aber nur mit fünf Prozent. In Österreich betrug die Körperschaftsteuer bis zur Steuerreform 2004/2005 34 Prozent, danach 25 Prozent. Die Grünen stellten bereits 2014 eine parlamentarische Anfrage an Schelling zum Steuerentfall für Österreich durch diese Firmenkonstruktion. Der Minister gab dazu keine Auskunft und berief sich auf die abgabenrechtliche Geheimhaltungspflicht. Schelling war von 1992 bis 2005 Geschäftsführer der XXXLutz GmbH und von 2005 bis 2011 im Aufsichtsrat.

Es kann nicht schaden, zu wissen, wer real für welche Politik steht. Kann hoffentlich in Zukunft wahlentscheidend sein.

[Vorabdruck  aus der WAZ Wohnpark Alterlaa Zeitung, Ausgabe Oktober 2016]



Kategorien:Österreich, International, Politik, WAZ

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